BEM in der Praxis – Krankheitsbedingte Kündigung und BEM
Krankheitsbedingte Kündigung und BEM – Wahrheit & Mythen
Kommen Kündigung und BEM in Berührung, scheiden sich oftmals die Geister. Mehr als bei anderen Fragestellungen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements. Was stimmt und was nicht? Höchste Zeit also, Wahrheit und Mythen zu trennen
Kann der Arbeitgeber durch das BEM leichter kündigen, weil er nun Details über die Erkrankung kennt?
Nein. Zum einen muss der Arbeitnehmer seine Krankheit nicht offenbaren – auch nicht im BEM-Verfahren.
Zum anderen unterliegen die am BEM-Verfahren beteiligten Personen und Stellen im Hinblick auf die Weitergabe personenbezogener schutzwürdiger Daten wie Krankheitsdiagnosen, Prognosen und Behinderungsart einem strengen Datenschutz. Das bedeutet, dass in
der Personalakte lediglich vermerkt wird, dass ein BEM durchgeführt wurde und gegebenenfalls welche Maßnahmen zur Überwindung bzw. Vorbeugung von Arbeitsunfähigkeit ergriffen wurden, nicht jedoch die Krankheit selbst (siehe auch: Datenschutz im BEM).
Für die Durchführung des BEM ist es zudem nicht zwingend notwendig, die medizinische Diagnose hinter den Arbeitsunfähigkeitszeiten zu kennen. Schließlich macht das BEM niemanden gesund. Es sucht vielmehr nach Maßnahmen, die die Arbeitsunfähigkeit überwinden, erneute Arbeitsunfähigkeit verhindern und den Arbeitsplatz erhalten können.
Welche Tätigkeiten aufgrund der Erkrankung nicht (mehr) möglich sind, z.B. schweres Heben, Bücken, Überkopfarbeiten oder Publikumsverkehr (=negatives Leistungsbild), sind von den behandelnden Ärzten festzulegen. Im BEM lassen sich daraus Maßnahmen entwickeln, die eben diese Einschränkungen berücksichtigen. Die Suche im BEM gilt daher den Unterstützungsmethoden und Hilfen bei entsprechenden Einschränkungen und nicht den Heilmethoden einer Krankheit. Von Fall zu Fall ist es sicherlich hilfreich zu wissen, woran der Mitarbeiter erkrankt ist, um auch die geeigneten Experten mit Zustimmung des Mitarbeiters zu Rate zu ziehen, z. B. Ärzte, Therapeuten, Krankenkassen, Rentenversicherungsträger, Berufsgenossenschaften, Suchtberatungsstellen, Sicherheitsfachkräfte etc. Zwingende Voraussetzung für ein BEM ist es nicht. Für die Suche nach geeigneten Maßnahmen genügt ein „positives Leistungsbild“ (was kann der Mitarbeiter noch machen) und ein negatives Leistungsbild (wo liegen die Einschränkungen). Diese Erkenntnisse genügen, um gemeinsam zu überlegen, ob der konkrete Arbeitsplatz mit Hilfsmittels ausgestattet werden kann oder ob eine Aufgabenänderung notwendig ist, um eine Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen.
Praxistip
Gibt der Mitarbeiter seine gesundheitsbezogenen Daten im BEM frei, unterliegen sie strengstem Datenschutz und dürfen nur mit vorheriger schriftlicher Zustimmung des Mitarbeiters weitergegeben werden. Daher sind auch zwei Akten – strikt voneinander getrennt – zu führen, nämlich eine Personal- und eine BEM-Akte. Diagnosen und Prognosen dürfen nur in die BEM-Akte aufgenommen werden.
Erschwert das Betriebliche Eingliederungsmanagement die Kündigung durch den Arbeitgeber?
Ja – falls damit unbegründet ausgesprochene Kündigungen gemeint sind. Eine Kündigung ist immer die ‚ultima ratio’ des Arbeitgebers. Zuvor sind alle anderen Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Arbeitsplatz zu erhalten. Dies gilt im Übrigen für alle Arten der Kündigung. 1 Das BEM hilft bei der Suche nach weniger drastischen Maßnahmen – solchen nämlich, die die Arbeitsunfähigkeit senken und eine erneute Arbeitsunfähigkeit verhindern können. Im besten Falle ist dann gar keine krankheitsbedingte Kündigung mehr nötig. 2
Der Europäische Gerichtshof hat zudem in seinem Urteil vom 11.04.13 3 darauf hingewiesen, dass eine krankheitsbedingte Entlassung eine Diskriminierung sein kann. Der EuGH betont hierbei, dass der Begriff „Behinderung“ einen „Zustand einschließt, der durch eine ärztlich diagnostizierte heilbare oder unheilbare Krankheit verursacht wird, wenn diese Krankheit eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist.“
Um diese diskriminierende Kündigung zu vermeiden, sollten daher geeignete Maßnahmen vorgesehen werden, also wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, z.B. durch eine Umgestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen führen, sollten insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle und sonstige Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden. 4
Ist das BEM ist eine formale Voraussetzung für eine Kündigung?
Nein. Das BEM in § 167 II SGB IX ist vielmehr eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes des Kündigungsrechts. Eine krankheitsbedingte Kündigung wird nach ständiger Rechtsprechung des BAG dreistufig geprüft. 5
Zunächst ist eine negative Prognose des voraussichtlichen Gesundheitszustandes des erkrankten Arbeitnehmers erforderlich. Es müssen – bezogen auf Kündigungszeitpunkt und bisher ausgeübte Tätigkeit – objektive Tatsachen vorliegen, die auf eine weitere, längere Erkrankung hindeuten.
Darüberhinaus müssen die prognostizierten Fehlzeiten mit den zu erwartenden Auswirkungen des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen – zum Beispiel durch Störungen im Arbeitsablauf oder eine hohe wirtschaftliche Belastung. Eine Kündigung ist nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Kündigungsrechts allerdings unverhältnismäßig und damit rechtsunwirksam, wenn sie sich durch weniger drastische Mittel vermeiden lässt. So muss der Arbeitgeber aus mehreren, gleichermaßen geeigneten und zumutbaren Mitteln dasjenige wählen, welches das Arbeitsverhältnis und damit den betroffenen Arbeitnehmer am wenigsten belastet.
Mit Hilfe des BEM lassen sich diese Mittel erkennen und entwickeln. Eine Kündigung ist nur zulässig, wenn der Arbeitgeber alle Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung ausgeschöpft hat. Im Falle einer krankheitsbedingten Kündigung kommt hierbei nicht nur die Weiterbeschäftigung auf einem anderen freien Arbeitsplatz in Betracht. Der Arbeitgeber hat vielmehr alle gleichwertigen, leidensgerechten Arbeitsplätze, auf denen der Arbeitnehmer nach Weisungsrecht einsetzbar wäre, in Betracht zu ziehen und ggf. ‚freizumachen‘.
Muss der Arbeitnehmer beweisen, wo er hätte eingesetzt werden können?
Nein. Hat der Arbeitgeber kein BEM durchgeführt, darf er nicht pauschal anführen, er kenne keine alternativen Einsatzmöglichkeiten bzw. es gebe keine ‚freien Arbeitsplätze‘ für den erkrankten Arbeitnehmer. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender, konkreter Sachvortrag mit Antworten auf folgende Fragen: Warum ist der Einsatz des Arbeitgebers auf dem bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr möglich? Warum ist eine leidensgerechte Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes nicht machbar? Und warum geht Einsatz des Arbeitnehmers auf einem alternativen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit nicht?
Kann der Arbeitgeber kündigen, wenn der Arbeitnehmer das BEM abgelehnt hat?
Nein. Das BEM ist zunächst einmal für den Arbeitnehmer freiwillig. Lehnt er es ab, ergeben sich daraus keine Konsequenzen. Als Voraussetzung für diese Entscheidung muss der Betroffene allerdings wissen, worum es beim BEM geht. So entschied das BAG am 24.03.2011 (Az.: 2 AZR 170/10): Hat der Arbeitgeber ein BEM wegen der fehlenden Einwilligung des Arbeitnehmers nicht durchgeführt, kommt es darauf an, ob der Arbeitgeber den Betroffenen zuvor auf die Ziele des BEM sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hingewiesen hat. Diese Belehrung nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX gehört zu einem regelkonformen Ersuchen des Arbeitgebers um Zustimmung des Arbeitnehmers zur Durchführung eines BEM. Stimmt der Arbeitnehmer trotz ordnungsgemäßer Aufklärung nicht zu, ist das Unterlassen eines BEM generell ‚kündigungsneutral’. Kommt es jedoch zu einer krankheitsbedingten Kündigung, kann der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber nicht entgegenhalten ein BEM wurde nicht durchgeführt.
Fazit
- Das BEM ist weder ein Hindernisgrund für eine Kündigung, noch kann es sie beschleunigen.
- Durch das BEM können jedoch Leistungen und Hilfen gefunden werden, durch die eine Kündigung obsolet werden kann.
- Wichtige Grundvoraussetzung: Für jedes funktionierende BEM ist ein sorgfältig gehandhabter Datenschutz unerlässlich. Ob ein BEM-Verfahren gelingt, hängt wesentlich vom Vertrauen des BEM-berechtigten Mitarbeiters ab. Nur wenn er sicher sein kann, dass mit seinen Daten sorgfältig umgegangen wird, kann er sich mit der nötigen Offenheit in die Suche nach Maßnahmen einbringen, die ihm helfen die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden, erneute Arbeitsunfähigkeit zu verhindern und den Arbeitsplatz zu erhalten.
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1 siehe auch: BAG-Urteil vom 07.12.2006 (Az: AZR 182/06) Präventionsverfahren und verhaltensbedingte Kündigung: Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass § 167 Abs. 1 SGB IX den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Kündigungsschutzrecht konkretisiert.
2 Durch die dem Arbeitgeber von § 167 Abs. 1 SGB IX auferlegten besonderen Verhaltenspflichten soll möglichst frühzeitig einer Gefährdung des Arbeitsverhältnisses eines betroffenen Menschen begegnet und die dauerhafte Fortsetzung der Beschäftigung erreicht werden. Ziel der gesetzlichen Prävention ist die frühzeitige Klärung, ob und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um eine möglichst dauerhafte Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu erreichen (BAG 4. Oktober 2005 – 9 AZR 632/04)
3 EUGH-Urteil vom 11.04.13 – Az.: C-335/11
4 Richtlinie 2000/78/EG, Erwägungsgründe 20 und 21
5 vgl. BAG-Urteil vom 12.07.2007 – Az.: 2 AZR 716/06